«Die Biodiversitätskrise ist Realität»

Um die Biodiversität zu schützen, müssen wir die Lebensräume von Tieren und Pflanzen sichern. Dies fordert die Biodiversitätsinitiative. Auch im Kanton Aargau sind aber die bisherigen Massnahmen für die Natur insgesamt nicht ausreichend, um die Biodiversität zu erhalten. Matthias Betsche, Geschäftsführer Pro Natura Aargau und Grossrat GLP erklärt hier, wieso wir die Natur zum Überleben brauchen und wir mit einem JA am 22. September 2024 schützen, was wir brauchen.

(Bilder: zVg) Matthias Betsche, Geschäftsführer Pro Natura Aargau und Grossrat GLP: «Wir stehen diesbezüglich im Kanton Aargau gerade auch beim Siedlungsraum in der Pflicht, mehr für die Biodiversität zu tun.»

Die Biodiversität steht in der Schweiz unter Druck. Wieso geht es der Biodiversität in der Schweiz so schlecht?
Matthias Betsche: Ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten in der Schweiz ist ausgestorben oder gefährdet. Wir müssen mehr tun für die Biodiversität. Eigentlich weist die Schweiz eine grosse Vielfalt von Lebensräumen auf. Doch viele von ihnen wurden in den letzten Jahrzehnten auf kleinste Flächen reduziert. Und diese Flächen werden immer eintöniger und gleichen sich an. Gerade auch im Siedlungsraum besteht im Kanton Aargau grosser Handlungsbedarf. Siedlungen mit naturferner Gestaltung und Pflege sowie die Zersiedelung und Zerschneidung der Lebensräume nehmen im Aargau zu. Damit die Natur gestärkt wird und zudem ausreichend Kraft hat, um die für uns überlebenswichtigen Leistungen zu erbringen, braucht es mehr naturfreundliche Flächen und die Sicherung der bedrohten Lebensräume.

Sie fordern, dass wir mehr für die Biodiversität tun müssen. Warum braucht es mehr Fläche und Mittel für die Biodiversität?
Der Zustand der Natur ist besorgniserregend. Das sagen auch der Bundesrat, die Kantone, der Städte- und der Gemeindeverband und das sagte zweimal auch die Mehrheit im Nationalrat. Die Biodiversitätskrise ist Realität.
Es gibt auch im Aargau viele Tier- und Pflanzenarten, die gefährdet sind, einige sind bereits ausgestorben. Im Aargau sind beispielsweise viele Vögel verschwunden und ohne Massnahmen drohen weitere auszusterben: Der Bestand des Baumpiepers ist seit den 1990er-Jahren von über 500 bis auf wenige Brutpaare zusammengebrochen. Beim Gartenrotschwanz liegt der aktuelle Bestand bei noch etwa zehn Brutpaaren, verglichen mit gut 700 Brutpaaren vor rund 35 Jahren. Und die Feldlerche, vor ein paar Jahrzehnten im Aargau noch mit über 600 Brutpaaren vertreten, kämpft heute hier im Mittelland um ihr Überleben.
Bei Säugetieren, Reptilien, Amphibien, Fischen und Insekten sieht es nicht besser aus. Sogar die Bestände unseres einheimischen Igels nehmen in den letzten Jahren drastisch ab. Der Igel wird im Mittelland seltener und gilt neuerdings als «potenziell gefährdet». Das sind alarmierende Zeichen für den Zustand der Artenvielfalt im Aargau. Da müssen wir jetzt alles daransetzen, um diesen Trend umzukehren. Ich bin überzeugt, das ist machbar.

Was will die Biodiversitätsinitiative konkret und wieso geht es darin indirekt auch um unser Überleben?
Biodiversität hat nichts mit links oder rechts zu tun, mit städtisch oder ländlich, mit reich oder arm. Es geht schlicht und einfach um unsere Lebensgrundlage. Sie sorgt für sauberes Wasser, fruchtbare Böden, Bestäubung von Pflanzen und gesunde Nahrung. Mit der Initiative wollen wir den Anstoss geben, damit der Handlungsbedarf angegangen wird und gemeinsam mit allen Akteuren Lösungen ausgearbeitet werden. Eine vielfältige Natur ist von unschätzbarem Wert für uns. Ein Beispiel: Ohne Bienen, Schmetterlinge & Co. keine Bestäubung, ohne Bestäubung keine Nahrungsmittel wie Beeren, Früchte und Gemüse. Gleichzeitig sind aber 45 Prozent der Wildbienenarten in der Schweiz bereits ausgestorben oder gefährdet. Als Vater frage ich mich: welches Erbe hinterlassen wir hier unseren Kindern und Enkelkindern?

Die Siedlungsgestaltung in Suhr (Ruderalflächen, Wiesen und Tümpel) – ein kleines Eldorado für Frösche, Eidechsen, Vögel und Insekten.

Mit der Initiative wird die Biodiversität in der Verfassung verankert. Was ändert dies, respektive wieso ist das so wichtig?
Die Initiative ist ein Auftrag ans Parlament und an den Bundesrat, dafür zu sorgen, dass Lösungen ausgearbeitet und die nötigen finanziellen Mittel bereitgestellt werden. Wir brauchen die Biodiversität in der Landschaft, im Wald und in den Siedlungen. Für das Aargauer Komitee steht dabei Qualität vor Quantität. Wir stehen diesbezüglich im Kanton Aargau gerade auch beim Siedlungsraum in der Pflicht, mehr für die Biodiversität zu tun.

Nichts tun verursacht hohe Kosten. Können Sie diese Rechnung vorrechnen?
Gemäss Schätzungen des Bundesrats würde ein Nichthandeln in der Schweiz ab 2050 Kosten von jährlich 14 bis 16 Milliarden Franken verursachen. Demgegenüber stehen die vom Bundesrat errechneten zusätzlichen Kosten für den Schutz der Biodiversität, unserer Lebensgrundlage von 375 bis 443 Millionen Franken pro Jahr. Das sind 0,1 Prozent der Staatsausgaben in der Schweiz. Das müssen uns unsere Lebensgrundlagen Wert sein. Vor allem, weil wir sonst unseren Kindern und Enkelkindern Kosten in Milliardenhöhe überbürden würden. Und ohne Biodiversitätsinitiative geht der Trend genau in die falsche Richtung: Der Bundesrat hat soeben für die nächsten drei Jahre 276 Mio. Franken aus dem Verpflichtungskredit «Natur und Landschaft» gestrichen. Es braucht ein Ja zur Initiative, damit endlich mehr für die Biodiversität getan wird.

Wie schützt die Biodiversität uns vor dem Klimawandel und Umweltkatastrophen?
Die Biodiversitätsinitiative ist eine Klimaschutzinitiative. Biodiversität hilft nämlich gegen den Klimawandel: Moore und Wälder binden riesige Mengen CO2. Bäume und Gewässer sorgen für Abkühlung. Natürliche Flussläufe helfen gegen Hochwasser, Feuchtgebiete reichern das Grundwasser an, gesunde Wälder schützen das Berggebiet vor Lawinen und Murgängen.

Gemäss dem Bauernpräsident Markus Ritter haben wir schon viel Biodiversitätsfläche. Wie viel Fläche für Biodiversität haben wir denn bereits und reicht das noch nicht?
Mit den Worten des Bundesrats: «Der anhaltende Biodiversitätsverlust in der Schweiz macht deutlich, dass die bisherigen Bemühungen von Bund, Kantonen und Dritten nicht ausreichen, den besorgniserregenden Zustand der Artenvielfalt in unserem Land zu verbessern». Die Initiative verlangt von Bund und Kantonen, die «erforderlichen Flächen» zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität bereitzustellen. Im Initiativtext ist kein Flächenziel genannt. Nach Annahme der Initiative werden Bundesrat und Parlament und die Kantone zusammen mit allen Akteuren die geeigneten Lösungen ausarbeiten. Sie werden auf fachlicher Grundlage und pragmatisch den Verfassungstext umsetzen. Schützen und Nutzen gehen Hand in Hand.

Die Siedlungsgestaltung in Suhr (Ruderalflächen, Wiesen und Tümpel) – ein kleines Eldorado für Frösche, Eidechsen, Vögel und Insekten.

Wieso ist der Heimatschutz Teil der Biodiversitätsinitiative?
Seit 1962 werden Naturschutz, Heimatschutz sowie auch Landschaftsschutz im heutigen Art. 78 der Bundesverfassung gemeinsam geregelt. Der Initiativtext der Biodiversitätsinitiative folgt dieser bestehenden Systematik.

Will die Initiative noch mehr Waldreservate schaffen, in denen gar keine Bewirtschaftung möglich ist?
Was zur Umsetzung der Waldpolitik fehlt, ist genügend Geld – genau hier hilft die Biodiversitätsinitiative, welche mehr Mittel für die Biodiversität fordert. Im Aargau besteht beim Wald beispielsweise ein grösseres Potential in der Aufwertung der Waldränder. Dies sind strukturreiche, wertvolle Lebensräume für eine Vielzahl von Tieren und Pflanzen. Diese Massnahmen erleichtern zudem vielfach auch die angrenzende landwirtschaftliche Bewirtschaftung.

Wie fördert die Biodiversitätsinitiative die Natur im Siedlungsraum?
Der Handlungs- und Nachholbedarf im Kanton Aargau ist gerade im Siedlungsraum sehr gross. Mit der Biodiversitätsinitiative können wir mehr Grünflächen im Siedlungsraum schaffen. Gemäss der Fachgrundlage Ökologische Infrastruktur des Kantons wurde für den Aargau ein Handlungsbedarf für eine ausreichende Biodiversität im Siedlungsgebiet von rund 3690 Hektaren festgestellt.
Tiere, wie der Igel oder die Zauneidechse, müssen sich zudem in und zwischen den Lebensräumen bewegen können. Sie brauchen ein ‹ökologisches Strassennetz›, welches die Lebensräume vernetzt. Wir müssen eine «ökologische Infrastruktur» aufbauen und dabei den Siedlungsraum aufwerten: Natur macht unsere Siedlung attraktiv! Damit geben wir der Natur ein Netzwerk aus miteinander verknüpften Gebieten von hoher Lebensraumqualität zurück. Dieses Netzwerk ist für das Überleben der Arten notwendig, sowie für unsere Lebensqualität unabdingbar.

Welche Chance rechnen Sie sich für ein Sieg am 22. September aus, respektive ist die Bevölkerung genug sensibilisiert für ein Ja?
Wir müssen unabhängig vom Ausgang dieser Abstimmung das Bewusstsein für den Artenrückgang in der Bevölkerung stärken. Viele Tiere verschwinden im Stillen. Man liest aktuell darüber, dass die Bestände der Feldlerche zusammengebrochen sind, und dass es der Art gar nicht gut geht. Kinder, die heute aufwachsen, werden sich aber gar nicht an die Feldlerche erinnern.
Wir gehen Tag für Tag an Orten vorbei, die im Laufe der Zeit immer weniger Tiere beherbergen – das macht mich betroffen. Das ist eine gefährliche Entwicklung für unsere zukünftigen Generationen. Wir sind schliesslich Teil des Ökosystems. Wir brauchen die Natur.

Interview: Corinne Remund

www.biodiversitaetsinitiative.ch

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